Was ist das Kelly-Kriterium und warum ist es wichtig?
Das Kelly-Kriterium ist eine der bekanntesten mathematischen Formeln im Bereich des Money-Managements – nicht nur bei Sportwetten, sondern auch bei Investitionen und Trading. Entwickelt wurde die Formel 1956 vom Wissenschaftler John Larry Kelly Jr., der bei den Bell Laboratories arbeitete.
Die zentrale Frage, die das Kelly-Kriterium beantwortet: Wie viel sollte ich bei einer Wette mit positivem Erwartungswert einsetzen, um meine Bankroll langfristig optimal zu vermehren?
Anders als pauschale Empfehlungen wie “setze immer 2% deiner Bankroll” berücksichtigt Kelly die konkrete Situation: Deine geschätzte Gewinnwahrscheinlichkeit und die angebotene Quote. Das Ergebnis ist eine präzise Einsatzempfehlung, die mathematisch das beste Verhältnis zwischen Wachstum und Risiko darstellt.
Die Kelly-Formel: So funktioniert die Berechnung
Die Kelly-Formel für Sportwetten lautet:
f = (bp - q) / b
Dabei bedeuten die Variablen:
- f = empfohlener Einsatz als Anteil deiner Bankroll (z.B. 0.10 = 10%)
- b = Nettogewinnquote, also die Dezimalquote minus 1 (bei Quote 2.50 ist b = 1.50)
- p = deine geschätzte Gewinnwahrscheinlichkeit (als Dezimalzahl, z.B. 0.55 = 55%)
- q = Verlustwahrscheinlichkeit, also 1 - p (bei 55% Gewinnchance ist q = 0.45)
Praktisches Beispiel
Angenommen, du hast eine Fußballwette analysiert und kommst zu folgender Einschätzung:
- Du schätzt die Gewinnwahrscheinlichkeit auf 60% (p = 0.60)
- Der Buchmacher bietet eine Quote von 2.20 an
- Daraus folgt: b = 2.20 - 1 = 1.20 und q = 1 - 0.60 = 0.40
Eingesetzt in die Kelly-Formel:
f = (1.20 × 0.60 - 0.40) / 1.20 f = (0.72 - 0.40) / 1.20 f = 0.32 / 1.20 f = 0.267 oder 26.7%
Das Kelly-Kriterium empfiehlt dir also, 26.7% deiner aktuellen Bankroll auf diese Wette zu setzen.
Bei einer Bankroll von 1.000€ wären das 267€ – ein aus Sicht vieler Wettenden sehr aggressiver Einsatz.
Warum Full Kelly in der Praxis oft zu riskant ist
Das obige Beispiel zeigt bereits das Hauptproblem des Kelly-Kriteriums: Die empfohlenen Einsätze können extrem hoch ausfallen und führen zu starken Schwankungen der Bankroll.
Die Risiken von Full Kelly
- Hohe Volatilität: Auch bei korrekter Einschätzung können mehrere Verluste hintereinander die Bankroll drastisch reduzieren
- Fehleinschätzungen werden teuer: Wenn du deine Gewinnwahrscheinlichkeit überschätzt (was häufig passiert), setzt du systematisch zu viel
- Psychologische Belastung: Einsätze von 20-30% der Bankroll auszuhalten, erfordert extreme mentale Stärke
- Praktische Limits: Viele Buchmacher haben Höchsteinsätze, die Kelly-Empfehlungen unmöglich machen können
Die Realität ist: Selbst erfahrene Analysten überschätzen ihre Fähigkeit, Gewinnwahrscheinlichkeiten präzise zu berechnen. Kleine Fehler in der Einschätzung führen bei Full Kelly zu deutlich zu hohen Einsätzen.
Fractional Kelly: Die praktischere Alternative
Aus diesem Grund nutzen die meisten professionellen Wettenden Fractional Kelly statt Full Kelly. Dabei wird nur ein Bruchteil des berechneten Kelly-Einsatzes gesetzt.
Gängige Fractional-Kelly-Varianten
- Half Kelly (50%): Halbiert den berechneten Einsatz – deutlich geringere Volatilität bei nur minimal geringerem Wachstum
- Quarter Kelly (25%): Viertelt den Einsatz – sehr konservativ, aber extrem stabil
- One-Third Kelly (33%): Beliebter Mittelweg zwischen Wachstum und Stabilität
Beispiel mit Half Kelly
Nehmen wir die Wette von oben mit Full Kelly = 26.7%:
- Half Kelly: 26.7% × 0.5 = 13.35% Einsatz
- Bei 1.000€ Bankroll: 133.50€ statt 267€
Das reduziert die Varianz erheblich und macht Fehleinschätzungen deutlich weniger schmerzhaft, während das langfristige Wachstum nur geringfügig sinkt.
Wann macht das Kelly-Kriterium Sinn?
Das Kelly-Kriterium ist nicht für jeden geeignet. Es funktioniert am besten unter folgenden Bedingungen:
Voraussetzungen für sinnvolle Kelly-Nutzung
- Du kannst Gewinnwahrscheinlichkeiten realistisch einschätzen: Nur mit fundierten Analysen und statistischen Modellen
- Du hast nachweislich Value Bets: Kelly funktioniert nur bei positivem Erwartungswert
- Du hast mentale Disziplin: Auch nach Verlustserien beim System bleiben
- Du hast ausreichend Bankroll: Mindestens 1.000€, besser mehr, um Schwankungen abzufedern
- Du führst genaue Aufzeichnungen: Nur so kannst du deine Einschätzungsgenauigkeit überprüfen
Wann du NICHT Kelly nutzen solltest
- Als Wettanfänger: Starte mit Flat-Betting (1-2% fixe Einsätze)
- Bei Bauchgefühl-Wetten: Kelly braucht mathematische Grundlagen
- Mit kleiner Bankroll: Unter 500€ sind die Schwankungen zu groß
- Bei emotionalen Entscheidungen: Kelly erfordert eiskalte Disziplin
- Ohne Tracking: Du musst deine Trefferquote und Genauigkeit kennen
So setzt du das Kelly-Kriterium in der Praxis um
Wenn du das Kelly-Kriterium nutzen möchtest, folge diesem strukturierten Ansatz:
Schritt 1: Berechne deine eigene Gewinnwahrscheinlichkeit
Das ist der wichtigste und schwierigste Schritt. Du musst eine fundierte Einschätzung der tatsächlichen Eintrittswahrscheinlichkeit treffen – nicht einfach die Buchmacherquote umrechnen.
Methoden zur Wahrscheinlichkeitsberechnung:
- Statistische Modelle: Datenbasierte Vorhersagen mit historischen Ergebnissen
- Expected-Goals-Modelle (xG): Besonders im Fußball etabliert
- Form-Analysen: Head-to-Head, aktuelle Form, Verletzungen etc.
- Marktvergleich: Quotenvergleich mehrerer Buchmacher zur Validierung
Schritt 2: Identifiziere Value Bets
Vergleiche deine berechnete Wahrscheinlichkeit mit der impliziten Wahrscheinlichkeit der Buchmacherquote.
Beispiel:
- Deine Einschätzung: Team A gewinnt mit 60% Wahrscheinlichkeit
- Buchmacher-Quote: 2.00 (entspricht 50% impliziter Wahrscheinlichkeit)
- Value vorhanden: Deine Einschätzung liegt 10 Prozentpunkte über dem Markt
Nur wenn Value vorhanden ist (deine Wahrscheinlichkeit > implizite Quote-Wahrscheinlichkeit), macht eine Wette Sinn.
Schritt 3: Wende die Kelly-Formel an
Nutze die Formel mit deinen ermittelten Werten und entscheide, ob du Full Kelly oder Fractional Kelly (empfohlen: Half oder One-Third) einsetzen möchtest.
Schritt 4: Setze Limits
Auch mit Kelly solltest du Sicherheitsgrenzen einbauen:
- Maximaler Einsatz: z.B. nie mehr als 10% der Bankroll, egal was Kelly empfiehlt
- Minimaler Einsatz: Unter 1% lohnt sich der Aufwand meist nicht
- Negative Werte: Wenn Kelly einen negativen Wert berechnet, verzichte auf die Wette (kein Value vorhanden)
Schritt 5: Tracking und Anpassung
Führe detaillierte Aufzeichnungen:
- Geschätzte Wahrscheinlichkeiten vs. tatsächliche Ergebnisse
- Kelly-Empfehlung vs. tatsächlicher Einsatz
- Bankroll-Entwicklung über Zeit
Analysiere regelmäßig (z.B. alle 100 Wetten), ob deine Wahrscheinlichkeitsschätzungen kalibriert sind. Überschätzt du systematisch? Dann musst du konservativer schätzen oder einen kleineren Fractional-Kelly-Anteil nutzen.
Kelly-Kriterium vs. andere Bankroll-Management-Methoden
Wie schneidet Kelly im Vergleich zu anderen Systemen ab?
Flat Betting (fixer Prozentsatz)
Vorteil: Einfach, sicher, für Anfänger ideal Nachteil: Nutzt Value-Unterschiede nicht aus – jede Wette erhält gleichen Einsatz
Wann besser: Für Einsteiger oder wenn du Gewinnwahrscheinlichkeiten nicht präzise einschätzen kannst
Martingale-System
Vorteil: Kann kurzfristig Gewinne generieren Nachteil: Extrem riskant, führt fast immer zu Totalverlust
Wann besser: Nie – nicht empfohlen für Sportwetten
Fibonacci-System
Vorteil: Moderater als Martingale Nachteil: Basiert auf progressiven Einsätzen nach Verlusten, ignoriert Value
Wann besser: Ebenfalls nicht empfohlen für langfristig profitables Wetten
Fazit Systemvergleich
Für systematische Value-Wetter mit statistischer Grundlage ist Fractional Kelly die beste Wahl. Für alle anderen ist konservatives Flat-Betting mit solidem Bankroll-Management (1-3% der Bankroll) die sicherere Option.
Häufige Fehler beim Kelly-Kriterium
Fehler 1: Überschätzung der eigenen Fähigkeiten
Die meisten Wettenden überschätzen ihre Gewinnwahrscheinlichkeiten. Das führt zu systematisch zu hohen Einsätzen und Bankroll-Verlust.
Lösung: Nutze Fractional Kelly (Half oder Quarter) und tracke deine Genauigkeit über mindestens 100 Wetten.
Fehler 2: Kelly auf jede Wette anwenden
Kelly funktioniert nur bei echten Value Bets. Auf “Spaßwetten” oder unsichere Tipps angewendet, wird es gefährlich.
Lösung: Wende Kelly nur bei sorgfältig analysierten Wetten mit nachweislichem Value an.
Fehler 3: Keine Limits setzen
Blind der Kelly-Formel zu folgen, kann zu absurd hohen Einsätzen führen, besonders bei vermeintlich sicheren Favoriten mit Value.
Lösung: Setze ein Maximum (z.B. 10% der Bankroll), egal was die Formel empfiehlt.
Fehler 4: Kelly ohne ausreichende Bankroll
Mit kleiner Bankroll (unter 500€) führen Kelly-Schwankungen schnell zu psychologischem Druck oder Totalverlust.
Lösung: Baue erst mit Flat-Betting eine solide Bankroll auf, bevor du Kelly testest.
Fehler 5: Nach Verlusten vom System abweichen
Verlustserien sind normal, auch mit korrekten Kelly-Einsätzen. Panik und Systemwechsel zerstören den langfristigen Vorteil.
Lösung: Mentale Vorbereitung, akzeptiere Varianz als Teil der Strategie.
Praktisches Beispiel: Kelly über eine Wettserie
Stellen wir uns vor, du startest mit 1.000€ Bankroll und nutzt Half Kelly bei drei aufeinanderfolgenden Wetten:
Wette 1: Fußball-Heimsieg
- Deine Einschätzung: 55% Gewinnchance (p = 0.55)
- Quote: 2.10 (b = 1.10)
- Kelly-Berechnung: f = (1.10 × 0.55 - 0.45) / 1.10 = 0.145 (14.5%)
- Half Kelly: 14.5% × 0.5 = 7.25%
- Einsatz: 72.50€
Ergebnis: Gewonnen → Bankroll: 1.000 - 72.50 + (72.50 × 2.10) = 1.080€
Wette 2: Basketball-Over
- Deine Einschätzung: 58% Gewinnchance (p = 0.58)
- Quote: 1.95 (b = 0.95)
- Kelly: f = (0.95 × 0.58 - 0.42) / 0.95 = 0.138 (13.8%)
- Half Kelly: 6.9%
- Einsatz auf neue Bankroll: 74.50€
Ergebnis: Verloren → Bankroll: 1.080 - 74.50 = 1.005.50€
Wette 3: Tennis-Sieg
- Deine Einschätzung: 62% Gewinnchance (p = 0.62)
- Quote: 2.00 (b = 1.00)
- Kelly: f = (1.00 × 0.62 - 0.38) / 1.00 = 0.24 (24%)
- Half Kelly: 12%
- Einsatz: 120.66€
Ergebnis: Gewonnen → Bankroll: 1.005.50 - 120.66 + (120.66 × 2.00) = 1.126€
Analyse der Serie
Nach 3 Wetten (2 Gewinne, 1 Verlust):
- Startwert: 1.000€
- Endwert: 1.126€
- Gewinn: +12.6%
Die Einsätze haben sich automatisch an die Bankroll angepasst – nach dem Gewinn wurde mehr riskiert, nach dem Verlust weniger. Das ist die Stärke des Kelly-Kriteriums: optimale Kapitalallokation bei jeder Wette.
Fazit: Ist das Kelly-Kriterium das richtige für dich?
Das Kelly-Kriterium ist ein mächtiges Werkzeug für fortgeschrittene Sportwetten-Strategen, die:
- Statistisch fundierte Analysen durchführen
- Ihre Gewinnwahrscheinlichkeiten realistisch einschätzen können
- Mentale Disziplin und Geduld mitbringen
- Bereit sind, detaillierte Aufzeichnungen zu führen
Für Anfänger ist Kelly zu riskant und komplex. Starte mit simpler Flat-Betting-Strategie (1-2% fixe Einsätze) und baue erst Erfahrung auf.
Für erfahrene Wettende bietet Fractional Kelly (insbesondere Half Kelly oder One-Third Kelly) die beste Balance zwischen Wachstum und Risikokontrolle – vorausgesetzt, du hast nachweislich die Fähigkeit, Value zu identifizieren.
Wichtigste Grundregel: Das Kelly-Kriterium ist kein Allheilmittel. Es optimiert nur das Money-Management bei bereits vorhandenem Edge (Vorteil). Ohne Value Bets hilft auch die beste Kelly-Strategie nicht – du verlierst langfristig trotzdem.
Wenn du Kelly ausprobieren möchtest, starte konservativ: Nutze Quarter Kelly, setze strenge Limits (maximal 5-10% der Bankroll) und tracke deine Performance über mindestens 100 Wetten, bevor du das System bewertest oder anpasst.